Über den Röstigraben und Retour VI: Flucht in den Westen zur NStCM

Heute werden wir dem Titel dieses Reiseberichts zum ersten Mal gerecht und fliehen vor dem Wetter in den äußersten Westen der Schweiz. Es geht Richtung Genfersee und Jura zur NStCM.


Sonntag, 25. Juli 2021: Flucht in den Westen zur NStCM

Meine fünfte und letzte Nacht in Wilderswil wurde um kurz vor sieben vom Wecker beendet. Beim Frühstück konnten wir uns wieder Zeit lassen, denn mit Kaiserwetter war heute – und eigentlich die ganzen nächsten Tage – nicht zu rechnen. Dennoch kämpften einige blaue Löcher vor dem Fenster gegen die dicken Wolken, die in der vergangenen Nacht für heftigen Regen gesorgt hatten. So schlimm wie im Tessin, wo heftige Gewitterschauer einigen Schaden angerichtet hatten, war es hier aber nicht gewesen.
Nach dem Frühstück hieß es dann alle Sachen im Auto zu verstauen und schon trennten sich unsere Wege bis heute Abend wieder. Für mich gab es hier nichts mehr zu holen, Kollege Bahnfahrer hatte aber noch ein wenig an der BOB offen und wollte noch das Brückenmotiv zwischen Interlaken und Ringgenberg an der zB “nachmachen”.


Heute heißt es Abschied nehmen von Wilderswil und dem Berner Oberland – das Wetter zwingt uns Richtung Westen. Blick aus dem Gasthof Steinbock über die rauschende Lütschine.

Einzig im äußersten Westen, am Nordufer des Genfersees und den dortigen Ausläufern des Jura, waren SRF-Meteo für die nächsten Tage immerhin so um die 5 bis 8 Sonnenstunden pro Tag zu entlocken. Da die dortigen Bahnen auch keinen hochalpinen Charakter aufweisen, sollte sich damit eigentlich etwas anstellen lassen. Ich schwang mich also hinter Wilderswil direkt auf die Schnellstraße entlang des Thunersees. Kurz nach dem Beginn der A6 hinter Thun gab das Auto dann zu unerwarteter Zeit einen Warnton von sich: “Ölstand prüfen”. Na toll, dass musste doch jetzt nicht sein. Dass der Wagen alle zwei Jahre, immer im Jahr ohne Ölwechsel, gern mal rund einen Liter an Öl ergänzt haben möchte, war inzwischen zur Routine geworden. Aber ausgerechnet jetzt? Denn das bedeutete dann auf dem nächsten Autobahnparkplatz den gerade erst tetrismäßig eingeräumten Kofferraum komplett auszuräumen, um an den Ölkanister im Reserveradfach zu kommen. Immerhin fuhr ich ja das Gepäck von zwei Personen plus die Fahrradausrüstung, -Ersatzteile und -Werkzeug durch die Gegend. Da ist dann ein Kompaktwagen auch irgendwann mal voll, soll nicht auch noch die gesamte Rückbank mit umherfliegendem Zeug vollgemüllt sein (was spätestens nach einer Woche aber so oder so der Fall ist 😉 ).
Nachdem die Ölreserven ergänzt waren und alles wieder verstaut, konnte es mit einer Viertelstunde Verzögerung schon weitergehen. Auf dem Berner Autobahnring geriet ich noch in eines der heftigen Gewitter, die seit gestern Nachmittag über das Land zogen. Anschließend ging es ohne weitere Vorkommnisse entlang des Lac de Neuchâtel weiter Richtung Genfersee. In Nyon wurde erstmal der coop-pronto am Bahnhof angesteuert, um an diesem Sonntag nicht ohne Verpflegung irgendwo an der Strecke zu verhungern.

Jetzt galt es noch das Auto irgendwo loszuwerden. In Nyon selbst rechnete ich nicht damit, dies irgendwo kostengünstig zum Erfolg zu bringen. Daher fuhr ich einige Haltestellen an der hier im Tunnel im 90-Grad-Winkel zur Hauptbahn beginnenden NStCM entlang. Im Gegensatz zu weiten Teilen der Deutschschweiz, ist hier im Westen das Konzept des P+R durchaus schon angekommen und die Parkerei ist nicht ganz so restriktiv geregelt wie in anderen Teilen des Landes. Dort wird man das Auto oftmals überhaupt nicht los für einen Tag, egal ob man bereit ist dafür einige Franken zu investieren – Grüße nach Zürich… Hier an der NStCM und auch bei der MBC kann man das Auto in den kleineren Orten oftmals sogar kostenlos für 15 Stunden abstellen. Ich missverstand das “Park+Ride” also am Kreuzungsbahnhof Trelex wiedermal und stieg auf das Rad um. Nicht lange warten und schon fand auch eine Kreuzung der am Sonntag “nur” im Halbstundentakt bis Saint-Cergue verkehrenden NStCM statt. Von dort geht es dann im normalen Stundentakt weiter bis La Cure. Im unteren Teil Nyon – Trelex – Genolier wird unter der Woche sogar im Viertelstundentakt gefahren.

Pünktlich mit meiner Ankunft zeigten sich auch immer mehr blaue Lücken am Himmel, auch wenn dazwischen durchaus noch bedrohliches Schwarz herumwaberte.


Ein ABe 4/8 aus Saint-Cergue ist in Trelex eingefahren und wartet nun auf die letzte Kreuzung vor Nyon. Die Nummern sind leider nur klein in der Fahrzeugmitte angeschrieben, sodass sie im Nachhinein meist nicht lesbar waren. Es handelt sich aber jeweils um einen der vier Doppeltriebwagen 401+402 bis 407+408. Weitere Fahrzeuge sind inzwischen bestellt und sollen die an Werktagen noch dominierenden Be 4/4 aus den 80er Jahren ersetzten.

In den nächsten Stunden radelte ich entlang der Strecke bis zum Bahnhof Arzier hinauf. In vielen engen Kurven und Halbschleifen schlängelt sich die Strecke dabei die sanften Hänge nördlich des Genfersees Richtung Jura hinauf. Immerhin 650 Höhenmeter gilt es auf den 19 Kilometern von Nyon bis Saint-Cergue zu überwinden. Mit den vielen Haltestellen und Bahnhöfen und dem dichten Takt erinnert die Strecke schon fast an eine S-Bahn oder Vorortbahn und insbesondere im unteren Abschnitt ist sie das heute wohl auch. Vom rumpeligen Charakter des vergangenen Jahrhunderts, in dem die Strecke mehrfach einstellungsbedroht war und im Jahr 1958 ihren mit-namensgebenden letzten Streckenabschnitt ins französische Morez verlor, ist nicht mehr viel geblieben. Derzeit wird auch eine neue, zeitgemäße Hauptwerkstätte errichtet, in der es dann endlich möglich sein wird, auch die neueste Fahrzeuggeneration vollumfänglich zu warten.

Bis Arzier hinauf gelang schon so manches Sonnenbild mehr, als ich an diesem Tag erwartet hatte. Auf der Suche nach einem Motiv geriet ich zwischen dem Haltepunkt La Joy Clinique und dem Bahnhof Le Muids aber auch nochmal in einen heftigen Schauer. Zum Glück hatte ich es kommen sehen und noch rechtzeitig ein wenig Schutz suchen können.

Die vielen Richtungswechsel zum Höhengewinn ermöglichen an der Strecke im Grunde den ganzen Tag über Motive in beide Fahrtrichtungen und bis Arzier stößt man entlang kleiner Wege und Asphaltsträßchen an der Strecke alle paar Meter auf Fotomöglichkeiten. Erst ab Arzier wird es dann bis hinauf nach Saint-Cergue sehr dünn, da die Strecke hier fast vollständig in dichtem Wald verschwindet.


Ein ABe 4/8 hält im Bahnhof Givirns Richtung Saint-Cergue.


Selbst im Sonntagsfahrplan stand noch eine der alten Einheiten, geführt von Be 4/4, im Einsatz. Aufgrund ihres schlichten Design handelte sich diese typische 80er-Jahre-Fahrzeuggeneration bei mir den ebenso schlichten Namen “Kisten” ein.


Zwischen dem Haltepunkt La Joy Clinique und dem Bahnhof Le Muids fährt die Bahn eine große Schleife aus, um an Höhe zu gewinnen. Die Stelle wurde mal als potenzielles Abendmotiv vorgemerkt, dann von oben gesehen mit See im Hintergrund.


Die Kisten-Einheit kam ein wenig ungelegen aus Saint-Cergue zurück, hatte ich doch noch kein wirkliches Motiv gefunden. Beim Notschuss am Tunnel zwischen dem Bahnhof Arzier und dem Haltepunkt Bassins kam dafür die Sonne erneut heraus. Leider das letzte Mal, dass ich heute mit der alten Garnitur im Sonnenglück war.


Die Kurve aus dem letzten Bild am Tunnel herumgefahren Richtung Arzier, eröffnet sich diese Perspektive auf einen ABe 4/8 Richtung Saint-Cergue. Das Bild zeigt die typische Landschaft zwischen den vielen kleinen Ortschaften mit zahlreichen Neubaugebieten: Ein paar wenige Wiesen und Baumgruppen und ansonsten jede Menge Landwirtschaft, besonders Getreide- und Maisfelder, aber auch die für die Region typischen Sonnenblumenfelder. Erst oberhalb von Arzier wandelt sich die Landschaft mit zunehmender Höhe zunächst in dichten Wald, später in die typische offene Weite des Jura.


ABe 4/4 403+404 im Bahnhof von Arzier.

Um kurz vor vier machte ich dann in Arzier kehrt. Den Abschnitt hinauf nach Saint-Cergue mit dem Rad zu fahren hätte aufgrund der fast vollständigen Waldstrecke wenig Sinn gemacht, zumal das Auto auch noch aus Trelex abgeholt werden wollte. Kurz vor Trelex hatte ich mir aber noch eine Stelle für den späten Nachmittag vorgemerkt, die auf der Hinfahrt erst so mäßig im Licht war. Praktisch im Motiv stand auch eine Bank zum Warten auf Züge und Sonne. Von mehreren Versuchen klappte schließlich die Durchfahrt eines ABe 4/8 perfekt. Die Kiste Richtung Nyon, auf die ich anschließend noch wartete, verpasste eine Sonnenfenster leider um Haaresbreite. Zurück kam die Kiste auch nicht mehr, da der Halbstundentakt nun ausgedünnt wurde. Ein paar Aufnahmen der 80er-Jahre-Pendel standen also für Morgen noch auf der ToDo-Liste.


ABe 4/8 zwischen Givrins und Trelex kurz vor Trelex.

Ich rollte die letzten Meter zum Auto und fuhr anschließend nochmal kurz zum coop pronto nach Nyon, um schonmal Abendessen zu bunkern. Ein Hotel hatten wir für heute Abend in Saint-Cergue gebucht und für den Weg dorthin hatte ich mir noch das Motiv vor Le Muids gemerkt, wo man an der kleinen Nebenstraße auch mal einige Minuten einfach am Rand parken kann ohne zu stören, zumal das Motiv dann nur wenige Schritte vom Auto entfernt war.
So stand ich also, den Kaffee aus dem Coop schlürfend im Abendlicht über dem Genfersee und wartete auf den nächsten Stadler Richtung Saint-Cergue. Das fühlte sich schon wieder sehr nach Urlaub an und auch der kleine Ärger über die vielen “Dunkelbilder” des Be 4/4 war längst wieder verflogen. Nach zehn Minuten Warten klappte das Bild dann kalender-mäßig.


An meiner schon heute Mittag vorgemerkten Stelle zwischen der Haltestelle La Joy Clinique und dem Bahnhof Le Muids mit Blick über den Genfersee, passte dann um kurz vor sieben mit einem ABe 4/8 alles zusammen.

Auch wenn die Bahn überraschend flott die Steigung und engen Kurven hinaufsprintet, hatte ich den Zug bis Saint-Cergue dann doch wieder überholt und fuhr ihm noch Richtung La Cure bis auf die Hochebene rund um La Givrine voraus, wo ich mir noch Chancen auf Sonne ausmahlte. Und tatsächlich war die große Wiese hier noch im schönsten Abendlicht. Nur die riesige Baufläche mitten auf der Wiese war dann nicht so toll. Die Landschaft wechselt hinter Saint-Cergue recht plötzlich ins typische Jura-Antlitz, schließlich befinden wir uns hier auch schon wieder auf gut 1000 Meter. Das einzige Motiv, das diese Landschaft an der NStCM allerdings so richtig repräsentierte war immer auf dieser Wiese, was nun angesichts des Bauprojektes wohl bald Geschichte sein dürfte.


Die große Wiese bei La Givrine war bislang DAS Jura-Motiv entlang der NStCM und wird nun von einer riesigen Baufläche etwas verunstaltet. Davon unbeirrt eilt der inzwischen von mir überholte ABe 4/8 Richtung La Cure.

Jetzt war hier oben nicht mehr viel zu holen. Die restliche Strecke zwischen Saint-Cergue und La Cure verläuft fast vollständig eng oberhalb, oder direkt neben der Straße am Waldrand und bietet selbst bei Hochlicht kaum Motive. Also mit offenem Fenster durch die angenehm kühle und erfrischende Abendluft zurück nach Saint-Cergue und ins Hotel La Poste eingecheckt.

Dort machte ich dann direkt mal Bekanntschaft mit der sprachlichen Barriere, die mich auch den restlichen Urlaub treu begleiten sollte: Die Rezeptionistin war noch keine dreißig und sprach dennoch genau kein Wort einer verständlichen Sprache – außer ich hätte selbst französisch gekonnt. Wenn mir irgendwo im ehemaligen Ostblock alte Mütterchen begegnen, die eben vor 70 Jahren noch russisch in der Schule gelernt haben – ok, verstehe ich. Aber diese vollständige Ignoranz der “Weltsprache” durch alle Altersschichten hindurch, in einem hochentwickelten westeuropäischen Land und dem kleinen Zipfel des östlichen Nachbarlandes, der leider auch sprachlich daran angelehnt ist, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Um jetzt einen Schlüssel zu überreichen, die Uhrzeit des Frühstücks in Erfahrung zu bringen und den Weg zum Zimmer erklärt zu bekommen, brauche ich zwar nicht unbedingt eine sprachliche Schnittmenge, aber schaden tut es doch auch nicht. Jedenfalls sollte ich auch die nächsten Tage wiedermal merken, dass ich mich in keinem Land kommunikativ so aufgeschmissen fühle, wie in Frankreich und eben der Westschweiz. Was ja an sich noch bizarrer ist, weil die Westschweizer selbst im eigenen Land mit ihrer Sprache nicht wirklich weit kommen – dürfen dann halt nur Richtung Westen fahren – zum Einkaufen eh günstiger 😉

Das Hotel an sich gefiel dafür schonmal gut. Nach der Enge in Wilderswil hatte ich beim Betreten des Zimmers das Gefühl, hier könnte auch ein Tanzkurs veranstaltet werden. Gut, vielleicht etwas übertrieben, aber die drei Betten, die hohe Decke und der schier unendliche Freiraum, um neben Betten und Tisch mit Stühlen auch noch die Koffer ausbreiten zu können, ohne nachts einen olympischen Hürdenlauf veranstalten zu müssen, war nach fünf Nächten in den engen und dunklen Holzzimmern von Wilderswil irgendwie befreiend.

Der SwissPass hatte sich derweil für den nächsten Zug aus Saint-Cergue angekündigt. Aus reiner Geselligkeit lief ich also in der lauen Abendluft noch zum Bahnhof rüber. Einfach herrlich auch, hier nach der Schwüle der Seen im Berner Oberland auf gut 1000 Meter zu nächtigen, wo es dann einfach angenehm kühl wird am Abend. Auf dem Weg zurück hörte ich mir dann so manche Beschwerde über das Wetter an. Da hatte ich wohl alles richtig gemacht, direkt heute Morgen in den Westen zu fliehen.


Im letzten Sonnenschein erreicht der ABe 4/8 mit meinem Mitreisenden an Bord um 20 Uhr den Bahnhof in Saint-Cergue.

Im Hotel gab es dann noch einen großen gemischten Salat, Brötchen und ein Erfrischungsgetränk zum Finale des World Matchplay in Blackpool, das leider recht einseitig verlief. Ab Morgen würden wir uns dann ein neues Unterhaltungsprogramm zum Abendessen überlegen müssen…

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