Über Weihnachten bis kurz vor den Jahreswechsel flüchtete ich spontan zu ungewohnter Jahreszeit auf die sonnige Alpensüdseite. Von acht Tagen Sonne pur, mal mit, mal ohne Schnee, im Trentino, am Ritten, dem Bernina, dem Monte Generoso und im Appenzell erzählen die folgenden Teile des letzten Reiseberichtes aus 2024.
Prolog
Wer vor kurzem den Jahresrückblick aus 2024 bereits gelesen hat, wird schon einige Aufnahmen aus einer eher ungewöhnlichen Fotoreisezeit, zumindest für Mitteleuropa, gesehen haben. Zu völlig ungewohnter Zeit ging es vom 22. bis zum 30. Dezember 2024 noch einmal auf Tour. Besser gesagt überhaupt das erste Mal in der zweiten Hälfte des Jahres.
Ursprünglich hätte das zweite Halbjahr nach der Reise Ende Mai nach Prag und Budapest ganz anders verlaufen sollen. Nach dem Hochsommer war mindestens für den September eine zweiwöchige Rad-/Wander-/Fototour durch die Schweiz geplant. Doch es sollte Anfang September anders kommen: Ein körperlicher Zwischenfall zwang mich zunächst für zwei Wochen weitgehend in die Horizontale, anschließend begann für Monate der mühselige Prozess, sich wieder in wortwörtlich kleinen Schritten ins normale Leben zurück zu kämpfen. Ausdauer und Durchhaltevermögen waren dabei gefragt, ab Oktober waren zumindest wieder kleinere Tagesausflüge möglich, die etwas Abwechslung in den Alltag brachten, auch wenn man sich in der Mobilität dabei eher vorkam, wie manch vierzig oder fünfzig Jahre älterer Hobbykollege. Viele dieser Ausflüge waren 2024 hier bereits nachzulesen, ein paar Restbestände gab es noch in den vergangenen zwei Wochen Anfang 2025 zu lesen. Für das nachhaltige Aufladen der geistigen Energiereserven, können solche Tagesausflüge, nach einem für meine Verhältnisse schier endlosen halben Jahr ohne Reisen hinaus aus dem näheren Dunstkreis, allerdings nicht sorgen.
Und dann kommt ab November der Norddeutsche Winter. Ein teils wochenlanges Grau in Grau, wahlweise mit Hochnebel, Regen, Eisregen und Sturmböen um die null Grad oder gleich alles zusammen. In der Vorweihnachtszeit lässt sich dabei noch ganz gut mit dem ein oder anderen Weihnachtsmarktbesuch für Aufhellung sorgen, anschließend wird es dann aber düster in den Straßen und Gesichtern der Menschen. Nach einem halben Jahr nun noch einmal drei Monate ausharren, bis zur ersten geplanten Reise 2025 – ich sah es irgendwie nicht. Teile der Familie hatten sich eh schon auf die andere Hälfte der Erdkugel verzogen und damit die “Weihnachtsfeierlichkeiten” zusammenschrumpfen lassen, da konnte ich doch auch gleich noch Reißaus nehmen. Ein vor den Festtagen nicht mehr behebbarer Wasserschaden in den heimischen vier Wänden sorgte zusätzlich dafür, dass die Motivation, zwölf freie Tage auf einer Baustelle herum zu hocken, ins bodenlose sank. Körperlich sah ich mich zu einer Reise inzwischen wieder ganz gut im Stande, zumal die Tage minimal lang und damit die tägliche Zeit der Regeneration auch auf Reisen großzügig ausfallen sollte. So fiel der Blick in der letzten Arbeitswoche vor Weihnachten immer wieder mal auf die Wetterkarte. Paar mit dem Auto erreichbare Ziele wurden als Favoriten in der Wetter-App abgespeichert und siehe da: Auf der Alpensüdseite war ab dem 23. Dezember Sonne pur angesagt, soweit die Vorhersagen der verschiedenen Dienste reichten. Das war’s! Ich bin dann mal weg! Zwar bei den kurzen Tagen eine etwas ungewöhnliche Idee, aber die Urlaubstage um Weihnachten bis Neujahr sind ja ohnehin obligatorisch, da “verliert” man quasi nichts. Und wenn dann einfach durchgehend die Sonne scheint, wird schon das ein oder andere gehen.
Zunächst im Kreise der traditionell letzten Weihnachtsfeier auf dem Braunschweiger Weihnachtsmarkt und anschließender Kneipen noch etwas ungläubige Reaktionen geerntet, ob meiner spontanen Fluchtpläne, machte ich am frühen Sonntagmorgen des 22. Dezember Ernst, lud das Auto voll und startete mit dem Ziel Trentino Richtung Süden.
Weiteres Programm würde sich dort für die gute Woche, die mir bis zur schon geplanten Silvesterfeier blieb, problemlos finden: Ein östlicher Abstecher nach Südtirol an den Ritten und dann an der Alpensüdseite Richtung Westen zum Monte Generoso. Am Bernina käme ich dann auch vorbei, vielleicht dort einen Tag Pause einlegen? Im weiteren Verlauf prognostizierten die Frösche auch zunehmend Sonne für die restliche Schweiz, sodass die weitere Route vorerst offenblieb. Einziger Fixpunkt beim Start waren die drei am Samstagnachmittag noch schnell gebuchten Nächte in Mezzana. Nicht, dass man die Weihnachtsgeschichte nachspielt und wegen alles ausgebucht irgendwo an Scheunentore anklopft…
Sonntag, 22. Dezember 2024: Autotausch und Dreipässetour ins Trentino
Um halb vier rum sollte es losgehen heute. Kaum auf die Autobahn im Norden Braunschweigs aufgefahren, war plötzlich ein seltsames Schnarren, im Auto zu hören, das mit kurzen Unterbrechungen immer wieder einsetzte, unabhängig vom Betriebszustand. Woher kam das denn nun? Fahren tat der Leon noch ganz normal und die Systeme gaben keinerlei Anlass zur akuten Beunruhigung. Also mal die Lüftung als Fehlerquelle geprüft. Innenraumlüftung aus: Ruhe. An: Lautes Schnarren und Knarzen. Da hatte sich wohl irgendein Lager der Innenraumlüftung verabschiedet. Damit wären zumindest keine rund 3000km zu machen, schon weil man spätestens bei Dunkelheit im nassen Winter hoffnungslos einnebeln würde. Eine Reparatur wäre jetzt um Weihnachten rum wohl auch aussichtslos. Also an der Abfahrt Rüningen-Süd den U-Turn gemacht und auf die Suche nach einem alternativen Vehikel gemacht. Ungenutzte Fahrzeuge gab es über die Tage in der Familienflotte genügend, der Knackpunkt waren die nicht vorhandenen Winterreifen. So Ganzjahresreifen machen bei niedriger Laufleistung in unserer Region vielleicht durchaus Sinn, auf potenziell verschneite Pässe wollte ich damit aber nicht zusteuern. Es blieb nur der A4 als Option. Kurze Bedenkzeit meines Vaters mitten in der Nacht, dann hatte ich die Schlüssel und startete mit etwas über einer Stunde Verspätung den nächsten Versuch. Wenn man all die Steine des letzten halben Jahres nicht mit einer, mir in solchen Momenten zum Glück meist inne liegenden, leicht zynischen Distanz betrachtete, man könnte einfach Hinschmeißen. Der Pechsträhne erneut ein Schnippchen geschlagen, harrte ich nun am Steuer “meines” neuen Vehikels gespannt der nächsten Frechheiten, die da kommen mögen. Aber ich war auf der Piste und es rollte. Vielleicht klappt’s ja jetzt einfach mit etwas Urlaubsgefühl.
Durch Dauerregen ging es immer Richtung Süden, irgendwo hinter Rothenburg der übliche Stopp am Bäcker, nachdem an einer Tanke schon um sechs ein erster Kaffee gezogen worden war. Waagerecht peitschender Regen knapp über null Grad ließ mich aber mit meinem Frühstück schnell wieder im Auto verschwinden und nach einem kurzen Anruf hatte ich auch das letzte Rätsel der vier Ringe gelöst, wie denn der Spurhalteassisstent zu aktivieren sei, schließlich wollte ich noch paar Stunden Schlaf nachholen, bevor es hinter Thusis über die Pässe gehen sollte.
Das mit den Pässen hinter Thusis war dann die nächste Entscheidung, mit der ich das Karma herausfordern sollte, denn die “sichere” Route bei dieser Wetterlage wäre eindeutig über München, Rosenheim, Innsbruck, Brenner gewesen. Aber nee, die Strecke ist schon irgendwie fad und dann brauchts noch zusätzlich Pickerl für die Ösi-Autobahn und den Brenner, nur um irgendwo im Stau zu stehen. Deutlich schöner und für den Wagenlenker interessanter ist da die Dreipässetour über die Schweizer Route mit dem Julierpass, dem Berninapass und dem Passo del Tonale auf italienischer Seite zwischen Tirano und dem Trentino. Zweimal deutlich über, einmal knapp unter der 2000-Meter-Marke. Die Gefahr, dort heute irgendwo im Schnee zu verenden, war nicht völlig abwegig, aber ich wollte es versuchen.
So ließ ich nach dem Boxenstopp vor dem Pfändertunnel an der Raststation Bodensee auch die letzte Chance auf die “Österreich-Route” verstreichen und verschwenkte bei Diepoldsau auf die eidgenössische Autobahn 13.
Nach Thusis hatte ich dann bald schon die erste Schneepflugschlange vor mir, der letzte Check am dortigen Rastplatz verkündete aber weiterhin: Julierpass: offen, schneebedeckt, Winterausrüstung obligatorisch. Berninapass: offen, schneebedeckt, Winterausrüstung obligatorisch. Schneeketten und oder Allradantrieb schienen noch nicht von Nöten und so ließ ich auch den letzten Notausgang über den San Bernadino rechts liegen und bog mit der Albulastrecke Richtung Tiefencastel ab, wo ich die RhB schon wieder verließ und auf den Julierpass auszweigte.
“Schneebedeckt” stimmte schon einmal sehr gut, wobei es teilweise Eis oder unangenehmer Schneematsch waren. Es lief aber mit 30 bis 50 km/h recht angenehm vor sich hin. Bis die Blechkarawane aus Sonnenflüchtlingen kurz vor dem winzigen Dorf Mulegns plötzlich nachhaltig zum Stehen kam
Am Julierpass geriet die Fahrt kurz vor dem kleinen Dorf Mulegns erstmals ins Stocken. Da musste wohl ein Liegenbleiber verräumt oder Schnee geschoben werden. Zumindest stand es mal für eine knappe Stunde.
Zeit, sich mal etwas die Beine zu vertreten rund um das neue Gefährt – könnte man sich ja dran gewöhnen 😉 Aber zwei, drei Jahre soll der Leon eigentlich noch dürfen…
Glücklicherweise schneite es nicht mehr sonderlich stark, sodass man nicht befürchten musste, der Pass würde durch Nichtverkehr nun vollständig einschneien. Irgendwann rauschte dann mal ein Mulitvan der Polizei irgendwo nach vorn durch, dann kam ein Schneepflug zweimal aus dem Ort runter und wendete gekonnt und schnell direkt vor mir, um wieder Richtung Ort zu entschwinden. Was da nun genau los war, blieb unklar. Ich nutzte die Zeit, ein wenig frische Luft zu schnappen und bisschen was zu essen von dem, was ich mir vorhin in Diepoldsau noch vom Coop Pronto gezogen hatte. Nach einer knappen Stunde ging es dann genauso unvermittelt weiter, wie es zuvor ins Stocken geraten war. Das ESC hatte hinter den Kehren des Passes jeweils gut zu arbeiten, es wurde mit der Traktion aber nie so grenzwertig, dass man es hätte abschalten müssen. Schon ziemlich easy heutzutage mit all den Helferlein…
So rollte es bald die wenigen Höhenmeter ins Engadin wieder hinab, dass ich über St. Moritz und Pontresina ohne Halt passierte. Durch die weitere verlorene Stunde wurde es nun langsam knapp, den Bernina zumindest noch bei Resthelligkeit zu überqueren. Ein Fotohalt an der Montebello-Kurve durfte natürlich trotzdem nicht fehlen.
Fotohalt in der Montebello-Kurve. Nein, nicht vom Zug, sondern erneut vom sich wacker schlagenden Leihgefährt.
Etwa ab Diavolezza hatte es dann wieder eine wirklich geschlossene Schneedecke auf der Straße, auf der es sich wunderbar fahren ließ. Eben kein Eis oder Matsch, sondern eine schön festgefahrene Schneedecke. Erstaunlich, wie viel Grip ein vernünftiger Reifen auf so etwas selbst in der Steigung entwickeln kann. Vor allem ist das Fahrverhalten im Gegensatz zu Eis und Schneematsch auf einer Schneedecke absolut gutmütig. Die Haftgrenzen kommen und gehen langsam und kontinuierlich und nicht überraschend und unkontrollierbar. Die Passhöhe war bald passiert und es rollte auf leisen Schneesohlen hinab Richtung Val Poschiavo.
Abfahrt vom Berninapass Richtung Val Poschiavo. Hinter der Kurve zweigt der gesperrte Livigno ab.
Vom Wintereinbruch gelangte ich im Val Poschiavo zunehmend in die Dunkelheit und wieder zurück ins Nasse. Kein Wunder, sind es doch rund 1800 Meter Höhenunterschied zwischen Tirano und dem Berninapass. In Tirano mal kurz an die Seite gefahren und die weitere Route gecheckt. Nur noch 80 Kilometer, aber fast 2h Fahrzeit. Der Grund: Zwischen Tirano im Veltlin und Mezzana im Val di Sole, also globaler zwischen der Lombardei und dem Trentino, tut sich noch einmal ein Pass auf, der Passo del Tonale, der sich immerhin aufschwingt, es auch auf knapp 1900 Meter zu schaffen. Entsprechend langsam ging es auch über den letzten der drei eingeschneiten Pässe des Tages. Wenigstens saß mir aber – völlig italien-untypisch – nicht die ganze Zeit über jemand auf der Stoßstange. Stattdessen hatte ich vor mir einen ziemlichen Schleicher, aber mir war es ganz recht, kannte ich doch die Strecke selbst nicht wirklich und hatte so einen guten Orientierungspunkt vor mir. Bei der Geschwindigkeit bestand nun selbst im Schnee absolut keine Gefahr, dass es einen in der Dunkelheit aus irgendeiner der unablässig aneinandergereihten Kurven trägt. Am Passo del Tonale gab es sogar auch einige ganz veritable Wintersportorte, in denen ordentlich das Leben tobte. Bei einer Fahrt im Sommer 2019 in Gegenrichtung, waren das alles Geisterdörfer gewesen, wie man es auch aus den österreichischen, kombinierten Sauf- und Wintersportorten kennt. Irgendwann um 20 Uhr herum erreichte ich dann zumindest meinen Zielort Mezzana. Puh, das war ein ordentlicher Ritt gewesen. Über 12h reine Fahrzeit standen auf der Uhr. Aber gut, selbst unter nicht winterlichen Umständen spuckt google für diese Route schon deutlich über 11h aus. Die letzten 200km sind halt auch durchgehend Passstraßen…
Nachdem mein Hotel in zweiter Reihe, quasi direkt am Gegenhang zum Endbahnhof der Schmalspurbahn gefunden war, suchte ich nach kurzem Frischmachen direkt das einzige richtige Restaurant am Ort auf. Typischer Pizza, Pasta, Burger-Mix und auch paar “richtige” Speisen, wenn man es drauf angelegt hätte. Aber es war ganz nach meinem Geschmack und das Personal so freundlich so schnell, wie man es aus Italien kennt. Kaum zehn Minuten nach Bestellung war die Pizza am Tisch, es folgte noch in Butter geschwenkter Spinat, dazu ein Lemonsoda, bezahlen mit Karte direkt am Tresen, “coperto” schon inkludiert. Es kann alles so einfach sein, wenn man eben nur etwas essen möchte und nach einem langen Tag nicht den ganzen Abend auf das Essen, die Rechnung und das Wechselgeld wartend in einem Restaurant verbringen möchte.
Kurz zur Verdauung noch etwas die Hauptstraße hoch und runter geschlendert, dann ging es bald die drei Schritte zum Hotel zurück und schnell ging das Licht aus.
Das verschneite Mezzana verbreitet weihnachtliche Stimmung mit einigen Leuchtinstallationen.
Für heute Nacht ist der Wetterumschwung südlich der Alpen angekündigt, für den ich heute bis hier hinunter geballert bin. Die Wolken soll es dann am Alpenhauptkamm aufhalten und südlich davon bis zum Jahreswechsel nichts anderes mehr als Sonne geben. Am Himmel waren eben auch schon die Sterne zu sehen. Die Flucht in die Wintersonne könnte erfolgreich gewesen sein. Davon dann morgen mehr an der hier in Mezzana endenden Ferrovia Trento-Malé-Mezzana.