Nach den vielen aktuellen Reiseberichten, folgt heute nach längerer Zeit wiedermal ein kleiner Artikel der Reihe “Straßenbahnen im Exil”: Die Straßenbahn in Kassel erhielt Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre insgesamt 33 sechsachsige Gelenkwagen, welche teilweise bereits ab 1995 den Weg ins polnische Gorzów fanden.
Ende der 60er Jahre sollten in Kassel die noch zahlreichen Zweiachserzüge ersetzt werden. Bei Wegmann in Kassel wurde daraufhin eine Serie von 14 Zweirichtungs-Sechsachsern (GT6-ZR) gebaut. Die Fahrzeuge 301-314 entsprachen in weiten Teilen optisch und technisch dem bewährten GT6-ZR von Düwag. Alleinstellungsmerkmal war hingegen die Frontgestaltung. Hier wurde auf die dreigeteilte und schräggestellte Frontscheibe zurückgegriffen, wie sie bereits von den GT4 mit schwebendem Mittelteil, in Kassel in ähnlicher Form bekannt war. 1970 wurden noch einmal drei Wagen mit den Nummer 315-317 geliefert.
Insgesamt 8 der 17 GT6-ZR fanden nach ihrer Ablösung durch Niederflurwagen im Jahr 1999 den Weg ins polnische Gorzów Wielkopolski (Landsberg). Zwei weitere Fahrzeuge folgten im Jahr 2011 über den Umweg des Amsterdamer Straßenbahnmuseums.
Am 26. April 1991 ist der GT6-ZR 305 der ersten Lieferserie auf der Linie 4 unterwegs.
Vom ebenfalls ortsansässigen Waggonbauer Credé wurde nahezu zeitgleich von 1966-67 sieben sechsachsigen Einrichtungsgelenkwagen (GT6-ER) geliefert. Optisch und technisch sind die Wagen 315-321 (ab 1970 351-357) noch stärker an den Düwag GT6 angelehnt und weisen auch die charachteristische breite Düwag-Font mit zweigeteilter und schräggestellter Frontscheibe auf. Die Montage in Kassel erfolgte zum Großteil mit Teilen der Düwag. Sechs dieser sieben Fahrzeuge wurden ab 1995 nach Gorzów abgegeben.
Der Credé GT6-ER 355 hält mit Bw 566 auf der Wilhelmshöher Allee. Am 7. Oktober 1977 ist der Wagen schon zehn Jahre in Kassel im Einsatz. Meist wurden die Einrichter beider Serien mit Beiwagen auf der aufkommensstarken Linie 1 eingesetzt.
Da Credé zwischenzeitlich den Straßenbahnbau aufgegeben hatte, wurde in der Folge die Firma Wegmann auch mit der Lieferung weiterer Einrichtungswagen beauftragt. Die zweite Serie Einrichter unterscheidet sich daher gravierend von den ersten sieben Fahrzeugen. Die 1971 gelieferten GT6-ER 358-366 wurden mit der schon bei den Zweirichtern verwendeten schmalen Front mit dreigeteilter Frontscheibe versehen. Der Wagenkasten konnte dadurch um jeweils 25 cm pro Wagenteil verlängert werden und so Platz für 9 weitere Steh- und einen Sitzplatz geschaffen werden.
Von diesen neun Fahrzeugen gelangten nach deren Einsatzenden in Kassel in den Jahren 2003 und 2004 sieben nach Gorzów.
18 Jahre später sehen die ersten GT6 in Kassel bereits ihrem Einsatzende entgegen. Der GT6-ER der Wegmann Lieferserie wird allerdings erst 2003 nach Gorzóv gelangen. Am 29. Juni 1995 ist GT6-ER 358 mit Bw 567 an derselben Stelle zu sehen, wie 18 Jahre zuvor GT6-ER 355. Während das Haus am Straßenrand bereits saniert wurde, sieht die notdürftig geteerte Straße schon recht ausgefahren aus.
Einige GT6 trugen bereits in Kassel Ganzreklame, während sie später in Gorzow zeitweilig fast vollständig beklebt werden sollten. Am 19. Juni 1995 führt GT6-ER 366 mit Bw 571 an der Haltestelle Rathaus eine illustre Fahrzeugparade gefolgt vom GT6-ZR 312, NGT6D 453 und M8C 410 an.
Ab 2003 konnte in Gorzów dank der zahlreichen Fahrzeuge aus Kassel nahezu der gesamte Betrieb auf den beiden Linien 1 und 2 mit den GT6 abgewickelt werden. Als Betriebsreserve dienten allerdings weiterhin einige Konstal 105Na. Über den miserablen Zustand der Gleisanlagen konnten aber auch die deutschen Wagen nicht hinwegtäuschen und mit den Jahren passten sie sich im Erscheinungsbild teilweise dem traurigen Gesamteindruck des kleinen Straßenbahnbetriebes an. Lange Zeit stand der Fortbestand der Straßenbahn Gorzów daher auf der Kippe. Als eine langfristige Entscheidung für oder gegen die Straßenbahn aufgrund der untragbaren Zustände unausweichlich wurde, entschied man sich erfreulicherweise mit Hilfe von EU-Fördermitteln für den Erhalt des kleinen Betriebes und so ruht der Straßenbahnbetrieb in Gorzów seit Sommer 2017 zur Generalsanierung des Gleisnetztes. Währenddessen begann die Lieferung von 14 Pesa Twist Niederflurwagen, welche noch Ende 2019 den Betrieb auf der Linie 1 aufnehmen sollen. Die Wiederaufnahme des Betriebes auf der Linie 2, wird nach erfolgter Modernisierung erst in ca. zwei Jahren erwartet. Da der Linie 1 vorerst noch eine Endschleife fehlt, können die nur noch als Einrichter einsetzbaren GT6 vorerst nicht eingesetzt werden. 9 der 18 verbliebenen GT6 wurden allerdings noch einmal generalsaniert. Dem Vernehmen nach handelt es sich dabei allerdings ausschließlich um die Fahrzeuge von Wegmann mit schmaler Front. Ob die GT6 bereits vor der Eröffnung der Linie 2 wieder zum Einsatz kommen, ist ebenso ungewiss, wie die Zukunft der verbliebenen Credé-Wagen.
Am 1. August 2007 konnte der Credé GT6-ER 271 (Kassel 354) in der Innenstadt an der Verzweigung der Linien 1 und 2 aufgenommen werden. Die hier geradeaus fahrende Linie 1 war an diesem Tag nicht in Betrieb.
Die Gleise befanden sich ebenso wie die Fahrzeuge schon im Jahr 2007 in einem beklagenswerten Zustand. Später am Tag ist 271 unweit der Haltestelle Pl.Sloneczny in Richtung Wiepryze unterwegs.
Der GT6-ZR 257 (Kassel 311) erreicht am 1. August 2007 die Endschleife Wiepryze, an der Übergang zur Regionalbahn besteht.
Der Credé GT6-ER 221 (Kassel 356) erreicht wenig später ebenfalls die Endschleife Wiepryze.
Das Wetter zeigte sich leider auch am 21. April 2017 nicht von seiner besseren Seite. Dafür haben einige der GT6 zwischenzeitlich wenigstens eine kleine äußere Auffrischung erhalten. Im neuen Design und mit digitaler Zielanzeige zeigt sich der Wegmann GT6-ZR 258 (Kassel 305) unweit der Haltestelle Pl.Sloneczny.
Auch Wegmann GT6-ZR 259 (Kassel 310) erstrahlte in neuem Gewand. Den tristen Eindruck der Innenstadtpassage kann jedoch auch dieser nur schwer überdecken. Das trübe Wetter tut an der Haltestelle Zakład Energetyczny ein Übriges.
Wenig später kehrt GT6 259 aus Piaski zurück und konnte an der Haltestelle Chodkiewicza im Norden der Stadt aufgenommen werden. Der Fahrgastandrang selbst zur Mittagszeit ist beachtlich.
Als Zweirichtungswagen können die Wegmann GT6-ZR (Kassel 307) schon lange nicht mehr eingesetzt werden, wie unschwer an den mit Werbefolien überklebten Türen zu erkennen ist. Wegmann GT6-ZR 254 erreicht die Endschleife Wiepryze. Die Linie 1 war auch im April 2017 nicht in Betrieb.
In den vergangenen zehn Jahren scheint die Zeit stehen geblieben. Gleise und Umfeld sind noch immer stark verschlissen und lassen kaum vermuten, dass die Rettung der Straßenbahn bereits beschlossene Sache ist. Wenige Wochen später wird die komplette Einstellung zwecks Generalsanierung von Infrastruktur und Wagenpark erfolgen.
Auch ein Wegmann GT6-ER (Kassel 364) war im April 2017 noch unterwegs. Die eingesetzten Fahrzeuge machten durchweg einen recht guten Eindruck, so auch GT6-ER 266 an der Endhaltestelle Wiepryze. Die Credé GT6-ER standen dafür garnicht mehr im Einsatz.
Kurz darauf bricht sogar ein Hauch von Sonnenschein durch die Wolkensuppe, als GT6 266 in der schon ländlich anmutenden Endschleife Wiepryze wendet.