Mit Tatra, Konstal und Pesa durch’s herbstliche Stettin

Am 15. Oktober stand wiedermal ein Besuch der polnischen Großstadt Stettin (Szczecin) an. Nur 150 Kilometer von ihrer alten Heimat entfernt, kommen hier seit 2006 zahlreiche ehemalige Berliner KT4D und T6A2 zum Einsatz. Aber auch der polnische Einheitswagen 105Na steht in vielen Umbauvarianten im Einsatz und seit 2010 gar die ersten neuen Niederflurbahnen von Pesa. So lud zusammen mit dem herrlichen Herbstwetter eine bunte Fahrzeugvielfalt zum Fotografieren ein.

Aus Frankfurt Oder kommend, erreichten wir Stettin am Abend des 14. Oktober. Die Tage sind dann allerdings Mitte Oktober doch schon recht kurz und so wurde erst am nächsten Morgen wieder die Kamera gezückt. Das Herbstlaub stand in voller Pracht und die Sonne strahlte den ganzen Tag vom wolkenlosen Himmel. Einem ausgiebigen Fototag stand also nichts im Wege.

Im Gegensatz zu vielen anderen polnischen Straßenbahnbetrieben, befindet sich das rund 64km lange Gleisnetz noch heute im gleichen teils desolaten Zustand, wie bei meinem ersten Besuch in Stettin im Jahr 2007. Damals rumpelten noch die ehemaligen Düsseldorfer GT6 über die vielen ausgefahrenen Großkreuzungen und Kreisel im Bereich der Innenstadt. Die alten Düwags sind inzwischen Geschichte und die ersten Niederflurwagen von Pesa stehen im Linieneinsatz, am Zustand der Gleise hat sich allerdings recht wenig getan. Ausgerechnet die viel befahrenen Innenstadtkreuzungen am Plac Żołnierza und Plac Rodła, befinden sich in einem abendteuerlichen Zustand: Da sind Herzstücken kaum mehr als solche zu erkennen und bilden eher eine ebene Fläche, in der Hoffnung, das gegenüberliegende Rad möge den richtigen Weg finden und hinauf auf eine Kreuzung muss mal eben eine zentimerterhohe Stufe überwunden werden. Aber auch die bereisten Strecken in den Hafen nach Gocław und zur großen Blockumfahrung am Dworzec Niebuszewo sind in einem katastrophalen Zustand. Bricht die Schiene irgendwann entgültig, wird irgendwie notgedrungen ein neues Stück zwischengeschweißt, ob da dann ein Höhenversatz von 10cm auf 50cm Schiene entsteht, scheint nebensächlich. Besser zeigte sich da schon die Strecke Richtung Westen nach Krzekowo, mit teils behindertengerechten Haltestellen und saniertem Gleiskörper, oder die Schnellstraßenbahn in den Osten der Stadt nach Turkusowa, welche gar im Jahr 2015 gänzlich niveaufrei verlängert wurde. Dennoch besteht auch im Vergleich mit anderen polnischen Betrieben noch ein gewaltiger Sanierungsstau bei der Infrastruktur.

Im abwechslungreichen Fahrzeugpark hat sich derweil in den vergangenen 15 Jahren Einiges getan. Bis 2006 bestand der Fahrzeugpark im Wesentlichen aus unzähligen der polnischen Einheitswagen 105Na und insgesamt 32 ehemaligen Düsseldorfer Düwag GT6. Seither wurden über 100 Tatrafahrzeuge aus Berlin und die ersten beiden Niederflurtypen in Betrieb genommen. Schauen wir uns den heutigen, abwechslungsreichen Fahrzeugpark bei einer Fahrt durch die herbstliche Hafenstadt etwas genauer an:


Gleich beim ersten Bild am Morgen konnte der jüngste Fahrzeugtyp der Flotte am Plac Rodła aufgenommen werden: Insgesamt vier Moderus Beta wurden in den Jahren 2014 und 2018 von Modertrans aus Posen geliefert. Der Wagen 602 gehört zu den ersten beiden Fahrzeugen aus dem Jahr 2014, welche äußerlich allerdings nicht von den beiden jüngeren Fahrzeugen zu unterscheiden sind.


Enge Verwandte sind die Moderus Alfa 105N von Modertrans, bei denen es sich ebenfalls um Neubauten auf Basis der 105Na handelt, allerdings weiterhin als klassische Vierachser ohne Niederfluranteil. Insgesamt 14 Fahrzeuge mit den Nummer 501-514 wurden von 2008 bis 2011 aus Posen geliefert.


Die pitoreske Strecke nach Gocław entlang des Hafens, bietet auch bei tiefstehender Oktobersonne schon am Morgen ausreichend Licht. Die Traktion aus den Konstal 105Ng/2015 537 und 536 erreicht stadteinwärts die Zwischenschleife der Linie 5 an der Haltestelle Stocznia Szczecińska. Diese Fahrzeuge gehören zur aktuellsten Umbauvariante der 105Na aus den 80er und 90er Jahren. Eine Reihe dieser Fahrzeuge wurde bereits unmittelbar nach der Jahrtausendwende zu 105Ng/D modernisiert. Diese Modernisierung betraf hauptsächlich die Antriebstechnik, fiel äußerlich allerdings durch den Wegfall einer der Mitteltüren und den Einbau neuer Außenschwenktüren auf. 2015 erhielten die Fahrzeuge dieser Reihe eine Fahrerstandsklimatisierung, neue Frontlampen, LED-Matrixanzeigen und die aktuellen Hausfarben und werden seither als 105Ng/2015 bezeichnet. Von allen Umbauvarianten der 105Na in Stettin, kommen diese den ursprünglichen Fahrzeugen noch am Nächsten.


An der Haltestelle Zajezdnia Golęcin befindet sich wie der Name schon sagt eines der Depots der Stettiner Straßenbahn. T6A2M 251 und 252 legen hier einen kurzen Halt ein. Insgesamt 54 T6A2M konnten zwischen 2009 und 2010 aus Berlin übernommen werden. Die aufwendige Modernisierung dieser Züge, nur um sie wenig später zur Fahrzeugparkbereinigung vollständig abzustellen, reiht sich nahtlos in die vielen Fehlinvestitionen der deutschen Bundeshauptstadt ein. Nutz­nie­ßer der Berliner Geldverschwendung war schlussendlich Stettin, das mit der Übernahme von 54 Fahrzeugen, seinen Wagenpark mit nahezu neuwertigen Fahrzeugen kostengünstig aufwerten konnte. 25 Doppeltraktionen sind noch heute im gesamten Netz im Einsatz.


Zahlreiche Fahrzeuge verschiedener Bauarten tragen Vollwerbung für Radio Stettin. So auch die T6A2M 205 und 206, welche ebenfalls unweit der Haltestelle Zajezdnia Golęcin aufgenommen werden konnten.


Die Endschleife Gocław mutet schon recht ländlich an und befindet sich unmittelbar neben einer lauschigen Marina mit zahlreichen Segelbooten. Die T6A2M Züge 251+252 und 205+206 genießen hier eine kurze Pause, bevor es über die ausgefahrene Strecke zurück Richtung Innenstadt geht.


Im Hintergrund ist unweit der Haltestelle Lipowa noch die Marina zu erahnen. Wagen 777 gehört zu einer Serie im Jahr 2001 auf 105Na neuaufgebauten und als 105N2K bezeichneten Fahrzeugen.


T6A2M 251 und 252 erreichen die Haltestelle Strzałowska stadteinwärts.


Richtung Innenstadt stoßen wieder die Linien 11 und 5 hinzu. Auf der Linie 5 kommen auch einige KT4DtM Doppeltraktionen zum Einsatz, wie dieser Zug aus den KT4DtM 154 und 155 unweit der Haltestelle Dubois. Insgesamt 74 modernisierte KT4DtM konnten ab 2006 aus Berlin übernommen werden. Die Berliner Fahrzeuge ersetzten zunächst die letzten Düsseldorfer GT6, später auch zahlreiche der unmodernisierten Konstal 105Na. Behielten sie zunächst noch ihr recht frisches BVG-Gelb, werden sie nun schon seit vielen Jahren nach und nach in die neuen Stettiner Hausfarben umlackiert. Im Hintergrund wendet der auf einem 1964 gebauten Konstal 4N basierende Arbeitswagen 041.


Ebenso wie beim Arbeitswagen 041, handelt es sich auch beim Museumswagen 167 des Typs Konstal N3 um einen polnischen KSW Nachbau. Dieses Fahrzeug wurde hingegen schon im Jahr 1954 gebaut. An der Haltestelle Dubois konnte der Zweiachser zufällig auf einer Sonderfahrt festgehalten werden.


Vor wenigen Jahren noch allgegenwärtig, sind die klassischen Konstal 105Na in Stettin inzwischen eine absolute Randerscheinung. Keine handvoll Züge im ursprünglichen Erscheinungsbild mit rustikal scheppender Doppeltür in der Mitte und der klobigen schwarzen Scheinwerfereinfassung sind mehr vorhanden. Als letztes Gespann für den Plandienst stand am 15. Oktober der Zug aus 105Na 762 und 763 im Einsatz und konnte auf dem Plac Grunwaldzki aufgenommen werden. Schon bald dürfte die Ära dieses polnischen Einheitswagen in Stettin vorüber sein, die verschiedenen Modernisierungsvarianten werden aber wohl noch einige Jahre das Stadtbild prägen.


Stettin steht in der Liste der schönsten polnischen Städte nicht unbedingt an erster Stelle und dementsprechend spielt auch der Tourismus im Gegensatz zu Städten wie Breslau und Krakau keine große Rolle. Neben morbidem Charme, findet sich aber doch die ein oder andere Ecke mit sehenswerter Bausubstanz, wie etwa das neue Rathaus an der Haltestelle Plac Tobrucki. Moderus Beta 602 erreicht die Haltestelle auf dem Weg über den Hauptbahnhof nach Pomorzany.


Am Hauptbahnhof konnte die KT4DtM-Traktion aus 168 und 169 auf der Linie 3 aufgenommen werden.


Auch der Hauptbahnhof ist eher für Interessierte an moderner Architektur sehenswert. T6A2M 251 und 252 verlassen die Haltestelle in Richtung Pomorzany.


In zwei Serien von 8 und 22 Fahrzeugen erhielt Stettin in den Jahren 2010 und 2013 seine ersten Niederflurwagen in Gestalt des sechsachsigen Multigelenkwagen Pesa “Swing”. Eingesetzt werden die Fahrzeuge vorwiegend auf den drei Schnellstraßenbahnlinien nach Turkusowa, welche sich in der Innenstadt auf verschiedene Streckenäste verteilen. So bleiben auch diese Wagen nicht vom fragwürdigen Zustand der Gleise auf vielen der Innenstadtstrecken verschont, quittieren die Stöße und Knicke der Gleise allerdings mit dem von diesem Fahrzeugtyp bekannten, gemächlichen hin und her Schwanken. Ein Motivklassiker in Stettin befindet sich an der Haltestelle Wyszyńskiego, mit der mächtigen Jakobskathedrale im Hintergrund. Pesa Swing 823 passiert die Kathedrale als Linie 2 nach Turkusowa.


In entgegengesetzter Richtung verläuft die Linie zur Blockumfahrung am Dworzec Niebuszewo. Auch diese rustikale Strecke schlucken die komfortabel gefederten Fahrzeuge unbeeindruckt weg. Pesa Swing 818 verlässt die Blockumfahrung auf dem Weg nach Turkusowa.


In besagter Blockumfahrung verlässt T6A2M 243 soeben die Endhaltestelle Dworzec Niebuszewo.


Die Linie 5 von Krzekowo zur Zwischenschleife Stocznia Szczecińska, bot an diesem Tag die größte Fahrzeugvielfalt: Abgesehen von den Niederflurwagen konnten hier alle Fahrzeugtypen vom KT4D-Doppel bis zum 105Na angetroffen werden. Auf dem Plac Szarych Szeregów konnten zwischen herbstlichen Bäumen die KT4DtM 154 und 155 aufgenommen werden.


Den Linienast nach Krzekowo teilt sich die 5 unter anderem mit der Linie 7, sodass hier auch die Pesa Swing angetroffen werden können. 120Na 801 biegt in die Endschleife Krzekowo ein, die lediglich am Rande des gleichnamigen Stadtteils liegt. Eine lange Autoschlange bildetet sich daher in der Rush-Hour stadtauswärts Richtung Krzekowo, an der der Swing auf der Gegenfahrbahn vorbei fährt und in die Schleifenanlage einbiegt. Das weiße Daimler SUV rechts hinter dem Fahrleitungsmast, hat es mit einem gewagten Tritt auf’s Gaspedal noch soeben vor dem Pesa durch die Engstelle geschafft. Die klobig massive Plasteschürze des Swing, hätte eine Berührung sicherlich weniger beeindruckt als den Mercedes…


Auch ein gelbes KT4DtM-Doppel konnte auf der Linie 5 angetroffen werden. Mit KT4DtM 143 an der Spitze, konnte das Doppel unweit der Haltestelle Żołnierska in der prächtig herbstlichen Allee Richtung Krzekowo aufgenommen werden.


Stadteinwärts zeigt sich diese Linie an vielen Stellen bereits saniert und weißt gar behindertengerechte Bahnsteige auf, wie an der Haltestelle Wernyhory, die KT4DtM 110 auf der nur alle 20 Minuten verkehrenden Linie 4 verlässt.


Hauptgrund für den nachmittäglichen Aufenthalt an der Linie 5 war allerdings das letzte verkehrende Konstal 105Na-Doppel aus 105Na 762 und 763. Einst drückte ich oftmals garnicht auf den Auslöser, wenn eines der hunderten Fahrzeuge vorbeirumpelte, heute jagdt man dann den letzten Vertretern hinterher – so vergeht die Zeit… In der prächtigen Allee nach Krzekowo konnte der Zug im letzten Nachmittagslicht zwischen den Haltestellen Wernyhory und Żołnierska aufgenommen werden.


Zum Abschluss noch ein Stimmungsbild des Zuges an derselben Stelle auf der Rückfahrt in die Innenstadt. Mögen die Fahrzeuge auch etwas grobschlächtig daherkommen, die Mitfahrt gestaltete sich dank der extrem weichen Federung auf den verschlissenen Gleisen immer überraschend komfortabel. So zeigten die Fahrer bei vielen Betrieben auch kein Erbarmen mit den Einheitswagen und jagten sie mit 50 Sachen über ausgefahrene Gleise in die Plattensiedlungen und Vororte hinaus. Hätte man nach solchen Touren beispielsweise mit einer Tatra oder deutschen Gelenkwagen einen Orthopäden aufsuchen müssen, wurde man in den Konstal 105Na vom rythmischen Schwanken und Nicken höchstens Seekrank…