Typenportrait: Entstehung und Entwicklung der GTx-Niederflurkonstruktion

Mit den Prototypen für Bremen und München stellte die GTx-Konstruktion eines Konsortiums deutscher Waggonbauer, Elektrofirmen und Verkehrsbetrieben, die erste 100% niederflurige Straßenbahn dar. Bis heute hat sich die Grundidee dieser Kurzgelenkkonstruktion als eine der zwei am weitesten verbreiteten 100%-Niederflurbauarten in Deutschland gehalten. Die GTx-Konstruktion wechselte dabei mehrmals den Hersteller. Von MAN/AEG unter anderem über Adtranz und Bombardier zu Solaris. Aktuell werden unter anderem an Bremen, Nürnberg und München Neufahrzeuge der weiterentwickelten Kurzgelenkkonstruktion von Siemens ausgeliefert und Nürnberg bestellte unlängst weitere Fahrzeuge dieser Bauart. [Zuletzt aktualisiert im März 2022]


Die beiden Artikel zu den Fahrzeugen bei ihren jeweiligen Einsatzbetrieben sind hier zu finden:

Die GTx-Niederflurkonstruktion in Deutschland – Augsburg, Berlin, Braunschweig, Bremen, Frankfurt Main und Frankfurt Oder
Die GTx-Niederflurkonstruktion in Deutschland – Jena, Mainz, München, Nürnberg und Zwickau


Die Entstehung der ersten 100%-Niederflurstraßenbahn

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre gewann die Frage der Barrierefreiheit zunehmend an Bedeutung. Besonders die Entwicklung erster Niederflurbusse erhöhte den Druck auf den Straßenbahnmarkt. Die einzige Lösung für barrierefreie Einstiege bei Straßenbahnen war bislang der aufwendige Umbau zu Stadtbahnen mit Hochbahnsteigen gewesen. Neue Entwicklungen im Fahrzeugbau erlaubten in den 80er Jahren jedoch erste teilniederflurige Fahrzeuge mit ungefähr 50% Niederfluranteil. Hierzu zählten etwa die neuen zwei- und dreiteiligen, aufgesattelten Drehgestellwagen von Vevey/ABB/DUEWAG für Bern und Genf, oder der TFS von Alstom für Grenoble. Andere Betriebe beschafften zeitgleich noch klassische Fahrzeugkonstruktionen mit einem abgesenkten Mittelteil, welches zumindest einen Niederfluranteil von ca. 20% ermöglichte. Hier seien insbesondere die Würzburger GT-E von LHB und die Freiburger GT8N von DUEWAG erwähnt.


Ab 1984 bauten Vevey/ABB und DUEWAG für Genf und Bern erste Niederflurstraßenbahnen. Besonders kleine, nicht angetriebene Laufdrehgestelle unter dem Mittelteil ermöglichten einen Niederfluranteil von deutlich über 50%. Über den angetriebenen Drehgestellen der aufgesattelten Endsegmenten, stieg der Wagenboden fast auf normales Hochflurniveau. Hier einer der ab 1989 nach Bern gelieferten, dreiteiligen Be 4/8.


1987 erhielt Gernoble in Frankreich die ersten Niederflurstraßenbahnen mit dem sechsachsigen TFS von Alstom. Die Endsegmente sind mit konventionellen, angetriebenen Drehgestellen auf einen Mittelwagen mit starrem Fahrwerk und Losrädern aufgesattelt. Durch die langen Sänften der Endwagen konnte ebenfalls ein Niederfluranteil von über 50% erreicht werden.


In Deutschland wurden zu dieser Zeit noch weitgehend konventionelle Hochflurfahrzeuge gebaut, deren Mittelteile lediglich einen abgesenkten Einstieg aufwiesen, womit die Niederflurigkeit dieser GT8 unter 30% lag. Hier der neukonstruierte Würzburger GT-E von LHB aus dem Jahr 1989. In Freiburg wurde dieses Konzept noch 1990 bei den GT8N von DUEWAG weitgehend auf der schon vorhandenen Konstruktion der GT8K umgesetzt.

Ende der 90er Jahre scheiterten mit der “VÖV-Niederflurstadtbahn”, einem vom damaligen Bundesministerium für Forschung und Bau geförderten Projekt einer großen Allianz von Waggonbau-, Elektrofirmen und Verkehrsbetrieben, erste Versuche einer 100%-Niederflurstraßenbahn.

Etwa zeitgleich entwickelten MAN, GHH und Kiepe gemeinsam mit den Bremer Verkehrsbetrieben ein alternatives 100%-Niederflurkonzept, den GT6N.
Jeder Wagenteil der dreiteiligen Konstruktion ruht dabei auf einem mittigen Drehgestell, was zunächst auf der Idee der in Bremen bereits bewährten Kurzgelenkfahrzeuge vom Typ GT4 von Hansa und Wegmann basierte. Mit dem Umbau eines GT4 von Wegmann zu einem dreiteiligen GT6 konnte bereits 1986 auch die Funktionsfähigkeit dieser Konstruktion für dreiteilige Fahrzeuge getestet werden. Der in Bremen liebevoll “Roland der Riese” genannte dreiteilige Wegmann GT6, ist damit gewissermaßen der Urvater des späteren GT6N und konnte die grundlegende Funktionalität dieser Wagenkonstruktion im Alltag bestätigen.
“Roland der Riese” war natürlich aber weiterhin ein klassischer Hochflurwagen mit konventionellem Antriebskonzept.


1986 entstand zur Erprobung der Funktionsfähigkeit des Kurzgelenkkonstruktion in dreiteiliger Ausführung der GT6 651 “Roland der Riese”. Dabei wurde das Heck des GT4 561 entfernt und das B-Teil des GB4 758 angebaut. Das Fahrzeug bewährte sich gut und legte damit einen Grundstein für den späteren GT6N. Bis 2004 kam der Wagen im Linienverkehr, zwischenzeitlich in 3561 umgenummert, zum Einsatz. Seither dient “Roland der Riese” in Bremen als Partybahn, ist derzeit aber abgestellt. Hier ist der GT6 am 11. November 1989 in Gröpelingen zu sehen.


1989 entstand mit Hilfe des nun überzähligen A-Teil des GB4 758 aus dem GT4 560 ein weiterer GT6. Die Entwicklung des GT6N war zu dieser Zeit natürlich schon weit über die Testphase der Fahrzeuggeometrie fortgeschritten. Der zweite “Riese” wurde 2005 als GT6 3560 verschrottet. Hier ist GT6 3560 am 22. August 1994 zu sehen.

Entscheidend für die Niederflurbausweise des GT6N waren daher Fortschritte in Antriebs- und Fahrwerkstechnik, um einen durchgehend niederflurigen Wagenboden zu realisieren. Den entscheidenden Fortschritt brachte hier die kompakte Drehstrom-Asynchronmaschine in Verbindung mit einem neuartigen Drehgestell:
Der am Wagenkasten aufgehängte Asynchronmotor treibt dabei über außenliegende Getriebe und eine torsionssteife Welle lediglich ein Radsatzpaar des Drehgestells an. Das zweite Radsatzpaar besteht aus zwei nicht angetriebene Losrädern. In der Fachsprache handelte es sich also um eine neuartige Konstruktion mit der Achsfolge (1A)’+(1A)’+(1A)’.
Zwischen den Radsätzen bestand keine durchgehende Achse mehr, sodass im Bereich des Mittelganges ein durchgehend niederfluriger Wagenboden realisiert werden konnte. Die kompakte Asynchronmaschine konnte seitlich vor dem Drehgestell unter einem Podest untergebracht werden, welches im Innenraum durch die Montage von darüberliegenden Sitzplätzen nicht weiter störte. Gleiches galt für die vier Einzelräder eines jeden Drehgestells, welche meist durch sich gegenüberliegende Sitzplätze kaschiert wurden. Durch den am Wagenkasten aufgehängten Fahrmotor, konnten zudem die ungefederten Massen der Drehgestelle niedrig gehalten werden, anders als bei auch später noch entwickelten Niederflurkonstruktionen, bei denen die Fahrmotoren gegenüber den Fahrgestellen zum Teil nicht vollgefedert waren.
In Kurven können die Drehgestelle über die primären Gummifedern leicht radial auslenken, wodurch der Kurvenlauf gegenüber der späteren Multigelenkkonstruktion deutlich komfortabler und verschleißärmer ausfällt. Problematisch ist dabei lediglich das Auslenken der Wagenkästen beim Rückstellen des Fahrzeuges in der Kurve: Das bereits in der Geraden befindliche Mittelteil wird dabei durch das noch in der Kurve befindliche letzte Wagenteil leicht ausgelenkt und lenkt wiederum den ersten Wagenteil ebenfalls leicht aus. Gerade bei engen Radien entsteht dadurch beim Übergang vom Bogen in die Gerade eine Z-Stellung der Wagenkästen, bis auch der letzte Wagenteil den Bogen verlassen hat. Neben dem dadurch entstehenden, leichten Schlingergefühl im Innenraum, stellt dies insbesondere bei genau am Kurvenausgang gelegenen Bahnsteigen ein Problem dar, da die ausgelenkten Wagenkästen die Bahnsteigkanten touchieren können, welche entsprechend angepasst werden müssen.


Auslenkung der Wagenkästen des GT6N beim Kurvenein- und auslauf.

Der modulare Aufbau des Fahrzeuges mit identischen Drehgestellen und, abgesehen von Front- und Heckpartie, identischen Wagenteilen, eröffnete die Möglichkeit, das Fahrzeug grundsätzlich in allen beliebigen Längen vom GT4N bis zur jeweils zulässigen Gesamtlänge von Straßenbahnen zu bauen. Um die erwähnten Auslenkkräfte über die gesamte Fahrzeuglänge beim Bogenauslauf zu vermeiden, wurden nach den Erfahrungen mit den vierteiligen GT8N in Bremen, bei allen weiteren vier- und sechsteiligen Fahrzeugen der GTx-Konstruktion, jeweils nach zwei Wagenteilen ein Doppelgelenk eingebaut. Dadurch handelt es sich gewissermaßen jeweils um mehrere gekuppelte GT4, deren Kurvenlauf untereinander entkoppelt ist, vergleichbar mit den in Bremen und München schon seit Jahrzehnten eingesetzten Zugverbänden aus GT4+GB4.

Im Jahr 1989 lieferte das Konsortium schließlich den ersten Prototyp des 100% niederflurigen GT6N nach Bremen. Drei weitere regelspurige Prototypen von MAN und AEG/Siemens folgten für München. Seine offizielle Premiere feierte der Bremer GT6N 801 als erste 100%-Niederflurstraßenbahn schließlich am 9. Februar 1990.


Am 9. Februar 1990 wurde mit dem GT6N 801 in Bremen die weltweit erste 100%-Niederflurstraßenbahn in Betrieb genommen. Hier ist der GT6N 801 am 13. April 1991 im Plandienst auf der Linie 5 vor dem Hauptbahnhof unterwegs. Bis 1998 kam das Fahrzeug in Bremen zum Einsatz und wurde anschließend zur Fahrzeugparkbereinigung nach Norrköping abgegeben, das auch die drei Prototypen aus München übernahm.


Der letzte der drei 1990-1991 von MAN und AEG gebauten Münchner Prototypen, R1.1 2703, am 27. August 1992.


Die GTx-Serienfahrzeuge

Sowohl in Bremen, als auch in München entschloss man sich anschließend für die Serienbeschaffung von Fahrzeugen der GTx-Konstruktion, wobei sich Bremen für eine vierteilige Variante entschied. Die Prototypen gelangten für Testfahrten zu zahlreichen Betrieben im In- und Ausland und wurden schließlich nach Norrköping abgegeben, wo sie einige Jahre im Linieneinsatz standen, bevor sie trotz teilweise umfassender Modernisierung, aufgrund von technischen Problemen und Ersatzteilmangel außer Dienst gestellt wurden.
Die ersten vierteiligen Serienfahrzeuge erreichten Bremen im Jahr 1993. Auffällig war vor allem die nochmals umgestaltete Frontpartie, welche jedoch in Bremen einmalig bleiben sollte. Stattdessen setzte sich die Frontgestaltung der ab 1994 ausgelieferten, dreiteiligen Münchner Serienfahrzeuge weitgehend durch. Eine Ausnahme bildeten die Fahrzeuge einiger schmalspuriger Betriebe. So erhielt Augsburg im Jahr 1993 einen meterspurigen Prototyp GT6M, der durch seine neue Frontgestaltung auffiel. Die Scheinwerfer waren hier in die Stoßelement an Front und Heck integriert. Nach einem Unfall wurde der Meterspur-Prototyp bereits 1995 abgestellt und später beim Hersteller abgebrochen. Augsburg erhielt jedoch wie zahlreiche andere Betriebe in den 90er Jahren elf Fahrzeuge der GTx-Konstruktion, nun aber wieder mit der von den Münchner Serienfahrzeugen bekannten Frontgestaltung. Die drei schmalspurigen Betriebe Braunschweig, Frankfurt Oder und Zwickau übernahmen demgegenüber die markante Frontgestaltung des Augsburger Prototypen.


Bremen erhielt ab 1993 insgesamt 78 vierteilige GT8N mit neuer Frontgestaltung, die sich besonders durch die abweichende Frontverglasung und die Scheinwerfer auszeichnete. Bis zum Münchner R3.3 blieben die Bremer GT8N die einzigen Vierteiler der GTx-Konstruktion. Zudem erhielten spätere Vierteiler bei allen Herstellern in der Fahrzeugmitte ein Doppelgelenk, um den Kurvenlauf der Fahrzeugsegmente zu zwei GT4 zu entkoppeln und so das starke Schlingern beim Kurveneinlauf und -auslauf zu verhindern. GT8N 3012 zeigt sich hier am 30. März 1994 im Auslieferungszustand der 78 Serienfahrzeuge. Bis 2023 werden die GT8N in Bremen nach und nach ausgemustert.


Abgesehen von den drei Kleinserien der Schmalspurbetriebe in Braunschweig, Frankfurt Oder und Zwickau, setzte sich die Gestaltung des Stoßelementes mit darüber liegenden Scheinwerfern der ab 1994 gelieferten Münchner Serienfahrzeuge durch. Die aus den Prototypen bekannte Frontverglasung wurde bei beiden Varianten übernommen, nachdem die Bremer Serienfahrzeuge davon abgewichen waren. Mit Ausnahme verschiedener Türen, entsprachen die Serienfahrzeuge für Augsburg, Berlin, Jena, Mainz und Nürnberg damit optisch den Münchner R2.2


Eine Besonderheit sind bei den drei Kleinserien für Braunschweig, Frankfurt Oder und Zwickau von insgesamt nur 32 Fahrzeugen, die markanten Stoßelemente mit integrierten Scheinwerfern. Hier der Zwickauer GT6M 904 nach einer Generalüberholung im Juni 2020. Das abweichende Frontdesign stammt vom Augsburger Prototypen, welcher nach einem Unfall schon 1995 ausgemustert wurde. Auffällig ist zudem der auf dem letzten Wagenteil montierte Stromabnehmer, was einzig bei dem GT6M für Frankfurt Oder und Zwickau Anwendung fand.

Die GTx-Konstruktion wechselte im Laufe der Jahre mehrmals den Hersteller und wurde in ihrer ursprünglichen Ausprägung der ersten Münchner Serienfahrzeuge, letztmals im Jahr 2001 für Berlin von Bombardier gebaut, das die GTx-Konstruktion mit der Übernahme von Adtranz geerbt hatte.
Adtranz hatte zuvor Ende der 90er Jahre für München und Nürnberg noch eine weiterentwickelte, vierteilige Version des GTx konstruiert. Hierbei kam erstmals das Doppelgelenk zwischen dem zweiten und dritten Wagenteil zum Einsatz, was anschließend bei allen weiteren vier- und sechsteiligen GTx-Niederflurwagen zum Standard wurde. Ansonsten fielen die Fahrzeuge besonders durch einen erstmals grundlegend neugestalteten Frontpartie auf.


Die GT8N für Nürnberg und München (dort als R3.3 bezeichnet) waren ab 1999 die ersten Vierteiler nach den Bremer Serienfahrzeugen. Die Weiterentwicklung von Adtranz wies erstmals das mittige Doppelgelenk auf. Zudem wurde insbesondere die Frontpartie neu gestaltet.

Mit der letzten Berliner Serie GT6-99ZR von Bombardier endete nach den Prototypen gewissermaßen das erste Kapitel der GTx-Serienproduktion. Von Bombardier wurde das mit Adtranz übernommene Konzept nicht weitervermarktet, obwohl mit den Vierteilern für München und Nürnberg noch ein aktualisiertes Produkt vorhanden war.


Weiterentwicklungen im 21. Jahrhundert

Das GTx-Konzept lebte allerdings weiter. So basiert der Avenio von Siemens für Bremen und München oder der Tramino für Braunschweig noch heute auf der Idee des niederflurigen Kurzgelenkwagens von 1989. Eine gravierende Änderung erlebte die GTx-Konstruktion dabei in den 2000ern bei Siemens:
Anders als bei den Vorgängern, nutzte Siemens beim Combino Plus und dem jetzigem Avenio weiterentwickelte Fahrwerke aus dem Combino. Der Combino Plus wurde dabei eher aus der Not heraus geboren, da mit Almada und Budapest noch zwei gültige Lieferveträge bestanden, während die “Combino-Krise” schon in vollem Gange war. Die beiden Betrieber weigerten sich daher, die sich als schadhaft herausgestellte Konstruktion des Combinos abzunehmen. Siemens konstruierte daraufhin den auf dem GTx-Prinzip basierenden Combino Plus, nutzte beim Antriebskonzept allerdings die aus dem Combino bewährten Längsfahrwerke, welche später auch für den Avenio weiterentwickelt wurden. Dabei werden die Motoren abgefedert auf beiden Seiten des Fahrzeuges längs zwischen den Radsätzen der Fahrwerke verbaut und treiben über Winkelgetriebe jeweils die Räder einer Seite des Fahrzeuges an. Da auf diese Weise alle Räder eines Drehgestells angetrieben werden und nicht mehr nur ein Radsatz je Drehgestell, weißt das Fahrzeug beispielsweise bei der vierteiligen Version ein reines Laufdrehgestell unter dem zweiten Fahrzeugsegment auf. Durch die wegfallenden Podeste für die separaten, am Wagenkasten aufgehängten Fahrmotoren, lässt diese Konstruktion auch bei der Innenraumgestaltung andere Spielräume. Auch lassen sich auf diese Weise problemlos zwei Doppeltüren je Fahrzeugsegment, jeweils vor und hinter dem Drehgestell anordnen, wie dies beispielsweise in München der Fall ist.


Mit dem Combino Plus und später dem Avenio von Siemens, änderte sich die Konstruktion erstmals nennenswert durch die Verwendung der weiterentwickelten Combino-Fahrwerke. Die Fahrmotoren sind auf beiden Seiten des Drehgestells längs zwischen den Rädern verbaut und treiben jeweils die Räder auf einer Fahrzeugseite an. Durch den Wegfall des separat vor dem Drehgestell aufgehängten Fahrmotors, können problemlos zwei Doppeltüren je Fahrzeugsegment verbaut werden, wie hier beim Münchner Avenio T1.7. Durch den Antrieb aller vier Räder eines Drehgestells, kann das Drehgestell des zweiten Segmentes als reines Laufdrehgestell ausgeführt werden. Gut zu erkennen auch das Doppelgelenk zwischen dem zweiten und dritten Fahrzeugteil, das bei den vier- und sechsteiligen Fahrzeugen seit den R3.3 von Adtranz von allen weiteren Herstellern übernommen wurde. Dadurch wird der Wagen praktisch zu zwei gekuppelten GT4, deren Kurvenlauf jeweils voneinander entkoppelt ist.

Da Siemens beim Avenio bei der Antriebstechnik neue Wege ging, konnte die Lizenz für die vom Bremer Prototyp stammende Konstruktion von Solaris übernommen werden. Bei Solaris erlebte die Konstruktion beim Tramino im Bereich der Fahrgestelle jedoch ebenfalls Veränderungen. Bei den deutschen Fahrzeugen für Jena und Braunschweig folgte man der bisherigen Konstruktion mit vor oder hinter den Drehgestellen am Wagenkasten aufgehängten Fahrmotoren. Allerdings sind die Fahrgestelle des Tramino symmetrisch, sodass über einen zweiten Fahrmotor hinter dem Drehgestell auch das zweite Radsatzpaar angetrieben werden kann. Auch ist es konstruktiv egal, ob der erste oder zweite Radsatz eines Drehgestelle angetrieben wird. Davon wurde sowohl beim dreiteiligen Tramino für Jena, als auch beim Vierteiler in Braunschweig jeweils bei einem Drehgestell Gebrauch gemacht, sodass die Fahrzeuge die Achsfolge (1A)’+Bo’+(A1)’ beziehungsweise (1A)’+Bo’+(1A)’+(1A)’ aufweisen. Deutlich wird dabei allerdings auch, dass die maximale Anzahl an Türen pro Fahrzeugseite, gerade bei Zweirichtungswagen, durch die Fahrmotoren vor bzw. hinter den Drehgestellen begrenzt wird. So wäre es beim dreiteiligen Zweirichter in Jena nicht ohne weiteres möglich, mehr als die vier Doppeltüren pro Fahrzeugseite zu verbauen. Dies führte beim dreiteiligen Tramino für das polnische Olsztyn zum Einbau von Fahrgestellen anderer Bauform, da die Zweirichtungswagen die maximale Anzahl an Türen von sechs Doppeltüren pro Fahrzeugseite erhalten sollten. Aufgrund der breiten Regelspurfahrzeuge war es möglich, die Fahrmotoren im Drehgestell unterzubringen und so eine Achsfolge Bo’+2’+Bo’ zu realisieren. Im Bereich der Drehgestelle ist der Innenraum der Fahrzeuge allerdings deutlich beengt. So verfügt der Tramino Olsztyn über den Drehgestellen jeweils über eine 1+1 Bestuhlung auf beiden Seiten, während beim ebenfalls regelspurigen Avenio, durch die speziellen weiterentwickelten Combino-Fahrwerke, die gesamte Fahrzeugbreite bestuhlt werden kann.
Mit der Übernahme von Solaris durch CAF, ging die Straßenbahnsparte schließlich an Stadler. Derzeit sieht es nicht danach aus, als würde Stadler mit dieser Konstruktion an Ausschreibungen teilnehmen und stattdessen die Vermarktung anderer Konzepte aus dem Konzern vorziehen.


Der zeitgleich zum Siemens Avenio von Solaris vermarktete Tramino, setzte hingegen weiterhin auf die bewährte Konstruktion mit am Wagenkasten aufgehängten Fahrmotoren vor den Drehgestellen. Beim Tramino lassen sich die Positionen der Fahrmotoren vor den Drehgestellen sehr gut durch die Wartungsklappen erkennen, hier im zweiten und vierten Fahrzeugsegment, die an dieser Stelle den Einbau einer weiteren Doppeltür verhindern.


Drei weitere Fahrmotoren sind beim Braunschweiger Tramino auf der türlosen Seite hinter dem ersten, zweiten und dritten Drehgestell untergebracht.


Beim 2015 gebauten Tramino für Olsztyn ist gut erkennbar, dass die Zweirichtungsbauweise gemeinsam mit den jeweils zwei Doppeltüren pro Segment, die herkömmliche Konstruktion mit am Wagenkasten vor oder hinter dem Drehgestell aufgehängten Fahrmotoren nicht mehr erlaubte. Stattdessen wurden die Fahrmotoren in den Drehgestellen untergebracht, wodurch in diesem Bereich im Fahrzeuginneren Podeste bis auf Höhe der Fensterlinie entstanden, sodass sich der nutzbare Innenraum hier auf jeweils eine Sitzreihe pro Fahrzeugseite beschränkt. Gemeinsam mit den vielen Türbereichen haben die Fahrzeuge so typisch für Polen eine recht überschaubare Anzahl von nur 43 Sitzplätzen.


Die GTx-Niederflurkonstruktion war zur Zeit der Prototypen insofern einmalig, da sie als erste einen durchgängig niederflurigen Wagenboden und Einstiege über die gesamte Fahrzeuglänge bot. Andere Hersteller wie DUEWAG, DWA oder Alstom, griffen bei ihren neuartigen Niederflurkonstruktionen stets auf klassische Drehgestelle an den Endwagen zurück, welche dort einen erhöhten Wagenboden aufwiesen und nur einen Niederfluranteil von ca. 75% realisieren konnten. Bei DUEWAG wurden die beiden Endsegmente mit den Drehgestellen auf ein Mittelteil mit vier Einzelrädern, den sogenannten EEF-Fahrwerken, aufgesattelt. Alstom, Fiat und Bombardier sattelten Anfang der 90er Jahre die Endmodule mit Drehgestellen auf ein kurzes vierrädriges Mittelteil mit starrem Fahrwerk auf.
Mitte der 90er Jahre erhielt die GTx-Kurzgelenkkonstruktion, welche inzwischen von Adtranz vermarktet wurde, dann allerdings Konkurrenz von dem bis heute meistverkauften 100%-Niederflurkonzept, dem Multigelenkwagen mit starren Fahrwerken und eingehängten Sänften. Als Eurotram, Combino, Variobahn, Citadis 302/402 und vielen mehr, eroberte diese fahrzeugseitig kostengünstigere Konstruktion schließlich ab dieser Zeit den weltweiten Straßenbahnmarkt und verhinderte eine weite internationale Verbreitung der deutschen GTx-Kurzgelenkkonstruktion.


Die GTx-Konstruktion im Ausland

In Deutschland bei zahlreichen Betrieben im Einsatz, lief die internationale Vermarktung dieses Fahrzeugtyps aufgrund der Verbreitung der günstigeren Multigelenker eher schleppend. Eine weltweite Besonderheit sind die fünf japanischen Betriebe in Kumamoto, Takaoka, Okayama, Toyama und die Echizen Railway, welche den GTx unter Lizenz, bis zu den Münchner Avenios T2.7, als einzige in einer zweiteiligen Variante erhielten. Als weitere Besonderheit auf internationaler Ebene sind die 40 Combino Plus für Budapest zu nennen. Der Vorgänger des Avenios hielt als sechsteiliges GTx-Fahrzeug ab 2006 für zehn Jahre den Rekord der längsten Straßenbahn der Welt, bis der Rekord 2016 ebenfalls in Budapest durch spanische Multigelenker vom Typ Urbos 3 von CAF eingestellt wurde. Erst rund zwei Jahrzehnte nach den ersten Prototypen, kam die Vermarktung der GTx-Konstruktion mit dem Avenio in den vergangenen Jahren auch international langsam in Gang. So konnte Siemens die GTx-Konstruktion seit 2004 nach Budapest (2004-2006), Almada (2005-2007), den Haag (2014-2019), Doha (2015) und Kopenhagen (2021) verkaufen.
Darüber hinaus fand der Avenio in den vergangenen Jahren zunehmend als Lizenzbau in China Verbreitung.
Ebenso wurden in Rumänien schon 2011 sechs als Imperio vermarktete Siemens-Lizenzbauten von Astra Vagoane Călători für Arad gebaut. Weitere drei- und vierteilige GTx-Fahrzeuge sind nun erst fast zehn Jahre später von den rumänischen Betrieben Bukarest, Cluj-Napoca, Oradea und Galați bei verschiedenen Herstellerkonsortien unter der Leitung von Astra bestellt. Das Auftragsvolumen beträgt dabei eine beachtliche dreistellige Fahrzeuganzahl und hat Cluj-Napoca im Jahr 2021 zum ersten vollständig niederflurigen Straßenbahnbetrieb in Rumänien verholfen.


Der sechteilige Combino Plus für Budapest hielt mit 54 Metern Länge über zehn Jahre den Rekord als längste Straßenbahn der Welt.


In Sachen Kurvenlauf und Gleisverschleiß, Erschütterungen und Geräuschentwicklung, fielen die weitaus mehr verkauften Multigelenker mit starren Fahrwerken vielerorts negativ auf, sodass bei zahlreichen Bestandsbetrieben mit teils alter Gleisinfrastruktur mittlerweile ein Umdenken stattfindet, hin zu der in diesen Belangen vorteilhaften Kurzgelenkkonstruktion oder auch zurück zu klassischen Drehgestellfahrzeugen. So erfährt der Siemens Avenio in den vergangenen Jahren einen regelrechten Boom, nachdem der aus der Not geborene Vorgänger Combino Plus eher als Ladenhüter zu bezeichnen war und neben Budapest lediglich an Almada ausgeliefert wurde. Seit 2013 bestellten allein den Haag, München und Bremen jeweils über 70 Fahrzeuge unterschiedlicher Konfiguration. Weitere Fahrzeuge wurden unter anderem von Nürnberg und Kopenhagen bestellt.

Inzwischen erreicht die erste Generation der GTx-Niederflurwagen nach fast 30 Jahren in vielen Städten das Ende ihrer wirtschaftlichen Lebensdauer. Unter anderem München und Nürnberg entschieden sich für eine umfassende Sanierung der Fahrzeuge für weitere Einsatzjahre. Demgegenüber entschied man sich in Augsburg und Bremen aus unterschiedlichen Gründen für einen Ersatz der ersten Niederflurgeneration. Nachdem mit den bei der BOGESTRA ausgemusterten MGT6D erstmals eine große Niederflurserie gebraucht ins Ausland abgegeben wurde, wird es in den kommenden Jahren spannend sein zu sehen, ob auch die ersten GTx-Fahrzeuge noch eine neue Heimat im Ausland finden werden. Für die Bremer GT8N bleibt mit der fortschreitenden Inbetriebnahme der Avenios, aufgrund des schlechten Zustandes indes nur der letzte Gang zum Schrotthändler.

In zwei weiteren Teilen dieses Typenportrait werfen wir anschließend einen genaueren Blick auf die GTx-Niederflurwagen bei den einzelnen Betrieben in Deutschland. Der erste Teil widmet sich den Fahrzeugen in Augsburg, Berlin, Braunschweig, Bremen, und Frankfurt (Oder). Als Blick über den Tellerrand werfen wir auch einen Blick auf den Frankfurter R-Wagen als letzte Niederflurkonstruktion von DUEWAG, welche viele Anleihen an der ursprünglichen GTx-Konstruktion nahm. Im zweiten Teil werden dann die Fahrzeuge bei den Betrieben Jena, Mainz, München, Nürnberg und Zwickau betrachtet.


Quellen:

  • https://www.solarisbus.com/public/assets/content/pojazdy/katalog/Tramino_DE.pdf
  • http://www.strassenbahn-online.de/Betriebshof/LF100/index.html
  • https://www.trambahn.de/kopie-von-s-tw
  • http://traminfo.de/wagenp.php
  • Joachim Ihme, Schienenfahrzeugtechnik, 2. Auflage, Springer Vieweg, Braunschweig, 2018
  • Martin Pabst, Straßenbahn- und Stadtbahnfahrzeuge – Das aktuelle Typen-Taschenbuch, GeraMond, 2007, München

Ein Dank geht außerdem an den Admin von Strassenbahn-online.de, der mir nach Veröffentlichung weitere Details und einige Korrekturen zukommen ließ, die inzwischen eingearbeitet werden konnten!

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